Adventskalender Türchen Nr. 15

15. Dezember

„Heimat“ von Saša Stanišić

Fragt mich jemand, was Heimat für mich bedeutet, erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater meiner ersten Amalgam-Füllung. Kennengelernt habe ich Dr. Heimat an einem heißen Tag im Herbst 1992 in seinem Emmertsgrunder Garten. Ich war auf der Höhe des Gartens auf der anderen Straßenseite, da hörte ich jemanden rufen, hörte einen Gruß. Ein alter Mann war es, Schnurrbart und Speedo-Badehose, der den Rasen mit einem Schlauch wässerte und mir zuwinkte.
Muss man skeptisch werden, wenn einen Senioren in Speedo-Badehosen grüßen? Ich grüßte zurück. Er suchte über den Zaun das Gespräch, fand wenig – mein Deutsch war miserabel. Dass er freundlich grüßte, über die Straße hinweg, genügte erst mal auch.
Dr. Heimat trug seinen Schnurrbart als Schnurrbart, also als einen Clark-Gable-Strich, diese heute leider fast ausgestorbene Gesichtshaarrasse. Mit fünfzehn fand ich den Schnurrbart Furcht und zugleich Vertrauen einflößend, er passte zu meinem Bild von Deutschland.
Die Straße, in der sein Rasen sehr weich aussah, sein Haus groß und sein Saab auf eine gute Weise alt, war die schönste Straße des Emmertsgrunds, mit den meisten Alarmanlagen. Eine Familie hatte Dr. Heimat nicht, was ich schade fand bei so guten Manieren, Schnurrbart und Zähnen.
Auf meine Zähne sprach er mich im darauffolgenden Frühling an. Wir hatten bis dahin nie mehr als ein paar Sätze miteinander gewechselt, er muss die Apokalypse in meinem Mund irgendwie durch die Wangen entröngt haben. Er riet mir, in seiner Praxis vorbeizukommen. Das sei jederzeit möglich, er empfehle aber: sehr bald. Eine Krankenversicherung hatte ich nicht, Dr. Heimat war das egal. Er hat unser aller Karies behandelt: bosnischen Karies, somalischen Karies, deutschen Karies. Einer ideellen Heimat geht es um den Karies und nicht darum, welche Sprache der Mund wie gut spricht.
Ich musste mehrmals antreten. Beim vierten oder fünften Mal erzählte ich auf dem Behandlungsstuhl ein bisschen von mir, ein bisschen von der Familie. Nicht weil Dr. Heimat neugierig war. Er war nur unglaublich nett. Ich rade brechte von Mutter, die sich in der Wäscherei abschuftete. Ich sagte, sie sei als Marxistin eigentlich so was wie eine Expertin für Ausbeutung, und jetzt werde sie ausgebeutet.
Dr. Heimat lächelte, schob ein fies aussehendes Gerät in meinen Mund und wurde den Spruch los: »Karl Marx hatte wahrscheinlich schlechte Zähne, aber gute Ideen.« Er begann an meinen zu schaben und sagte selbstvergessen: »Die Arbeiter haben kein Vaterland.«
Irgendwann erzählte ich ihm auch von meinem Großvater Muhamed. Dass ich glaubte, er sei von uns allen am wenigsten glücklich in Deutschland, allerdings viel zu freundlich und dankbar, um das zuzugeben. Dr. Heimat erkundigte sich, ob es etwas gab, was mein Großvater gern unternahm.
Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg. Ich erzähle, wie Dr. Heimat meinen Großvater und mich zum Angeln an den Neckar eingeladen hat. Wie er Angelscheine für uns besorgt hat. Wie er Brote geschmiert und sowohl Saft als auch Bier dabeihatte, weil man ja nie weiß. Wie wir Stunden nebeneinander am Neckar standen, ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten.

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